Cave Legem

 

"Cave Canem" warnt das Schild den Besucher vor der Gefahr eines bissigen Hundes. Neue Gesetze werden ohne solche Hinweise publiziert, auch wenn sie für den Anwender recht unangenehme Überraschungen enthalten.

Nach dem bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) hatte eine Berufung an das Bundesgericht von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung. Ein Beklagter, der vom obersten kantonalen Gericht (je nach Kanton Ober-, Kantons- resp. Appellationsgericht) zur Zahlung von mehr als CHF 8'000.--verurteilt worden war, konnte durch die Berufung an das Bundesgericht die Vollstreckbarkeit der Forderung des Klägers bis zum bundesgerichtlichen Urteil hinauszögern; schützte das Bundesgericht die Argumentation des Beklagten ganz oder teilweise und änderte damit das Urteil der Vorinstanz, musste der Beklagte definitiv gar nichts oder allenfalls zumindest weniger bezahlen.

Das neue, sich seit dem 1. Januar 2007 in Kraft befindliche Bundesgesetz über das Bundesgericht (BGG) sieht in Art. 103 Abs. 1 wörtlich vor:

"Die Beschwerde hat in der Regel keine aufschiebende Wirkung."

Was früher "Berufung" war, ist nach dem neuen BGG die "Beschwerde in Zivilsachen", die grund-sätzlich möglich ist, wenn der Beklagte vor der höchsten kantonalen Instanz zur Zahlung von mehr als CHF 15'000.-- in arbeits- und mietrechtlichen Fällen resp. CHF 30'000.-- in allen übrigen Fällen verurteilt worden ist.

Aufgrund des zitierten Art. 103 Abs. 1 BGG hemmt die Einreichung der Beschwerde in Zivilsachen per se die Vollstreckbarkeit des kantonalen Urteils nicht mehr. Der Kläger kann sofort nach Zustellung des Urteils des höchsten kantonalen Gerichtes die Vollstreckungsmassnahmen gemäss Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (Betreibung, Pfändung oder

Konkursandrohung) vornehmen. Da der Beklagte sich dagegen nicht wehren kann, muss und wird er bezahlen. Heisst nun aber das Bundesgericht sein Rechtsmittel ganz oder teilweise gut, hat er zuviel bezahlt und muss nun in einem neuen Prozess diesen zu Unrecht bezahlten Betrag zurückfordern! Pech für ihn, wenn der Kläger inzwischen insolvent geworden ist oder seinen Sitz/Wohnsitz ins Ausland verlegt hat.

Nur der profunde Kenner des neuen Gesetzes weiss, dass er mit der Beschwerde in Zivilsachen an das BGG gleichzeitig ein Gesuch um Bewilligung der aufschiebenden Wirkung einreichen muss. Welche Praxis das Bundesgericht hinsichtlich der Bewilligung solcher Gesuche einschlagen wird, ist vorläufig nicht absehbar; dass die aufschiebende Wirkung in Zivilsachen von Amtes wegen angewendet wird, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Klar ist deshalb einzig, dass es ein Kunstfehler wäre, wenn ein Anwalt vergisst, ein solches Gesuch einzureichen.

Leider ist zu befürchten, dass nicht allen Kollegen dieser fundamentale Systemwechsel bewusst ist, und der eine oder andere in diese Falle des neuen Gesetzes tappen wird. In der einschlägigen Literatur wird bestenfalls beiläufig auf dieses neue Prozessrisiko hingewiesen.

Dr. Peter Lenz

Lenz • Caemmerer

Basel, 26. März 2007