Zum Replikrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts

 

In der prozessualen Auseinandersetzung wird als Replik grundsätzlich die zweite Rechtschrift des Klägers, Gesuchstellers, Einsprechers etc. bezeichnet. In ihr nimmt er Stellung zur Klageantwort, Eingabe des Gesuchgegners oder Einsprachegegners etc.

Das Recht zur erneuten Stellungnahme in einem Verfahren stützt sich auf den verfassungsmäs-sigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) bzw. auf die entsprechende Verfah-rensgarantie gemäss Art. 6 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Effektiv gilt dieses Recht, sich zu Rechtschriften bzw. Eingaben anderer Verfahrensbeteiligter äussern zu dürfen, nicht nur für den Kläger etc., sondern auch für den Beklagten etc. und zudem nicht nur für eine zweite Rechtschrift bzw. Eingabe, sondern für jegliche Eingabe im Verfahren.

In der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichts war dieses weitverstandene „Replikrecht“ al-lerdings beschränkt auf Rechtschriften bzw. Eingaben anderer Verfahrensbeteiligter, in denen prozessual zulässige neue Tatsachen (sog. Noven) mit einem möglichen Einfluss auf den Ent-scheid enthalten waren (vgl. BGE 138 I 154 E. 2.3.3 mit Verweisen).

Diese frühere bundesgerichtliche Rechtsprechung wurde durch einschlägige Urteile des Europä-ischen Gerichtshofs für Menschenrecht (EGMR), Strassburg, substanziell ausgeweitet: Der EGMR hat der Schweiz in den letzten Jahren wiederholt Verstösse gegen Art. 6 EMRK vorge-worfen wegen der seines Erachtens zu restriktiven Handhabung des auf Noven beschränkten „Replikrechts“ nach der damaligen bundesgerichtlichen Rechtsprechung.

Als Folge dieser Urteile des EGMR hat das Bundesgericht das Recht anerkannt, „von allen bei Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue und/oder wesentliche Vorbringen enthalten“. Dabei sei es Sache der Parteien „zu beurteilen, ob eine Entgegnung erforderlich ist oder nicht“ (BGE 138 I 485 f E. 2.1).

„Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht dieses Replikrecht unabhängig davon, ob ein zweiter Schriftenwechsel angeordnet, eine Frist zur Stellungnahme angesetzt oder die Eingabe lediglich zur Kenntnisnahme oder zur Orientierung zugestellt worden ist… Dabei wird erwartet, dass eine Partei, die eine Eingabe ohne Fristansetzung erhält und dazu Stellung nehmen will, dies umgehend tut oder zumindest beantragt; ansonsten wird angenommen, sie habe auf eine weitere Eingabe verzichtet“ (BGE 138 I 486 E. 2.2).

Diese Rechtsprechung ist mithin eine Tatsache und hat weitreichende Folgen, namentlich:

– Die Prozessbeteiligten können sich nicht auf die richterliche Prozessleitung verlassen. Wenn sie eine Eingabe einer anderen verfahrensbeteiligten Person „zur Kenntnis“ zuge-stellt erhalten, müssen sie von sich aus – und zwar kurzfristig – prüfen, ob spontan beim Gericht zu intervenieren ist oder nicht.

– Indem die richterliche Prozessleitung relativiert und die Verantwortung der Prozessparteien erhöht wird, schwächen sich die Verfahrensgarantien des rechtlichen Gehörs entsprechen ab, namentlich durch die potenziell fatale Verzichtsfiktion im Falle der Unterlassung einer spontanen, d.h. unaufgeforderten, Eingabe an das Gericht.

– Die Parteien können sich nicht vorbehaltlos auf das von der anwendbaren Prozessord-nung vorgesehene Novenrecht verlassen: Sie müssen unter Umständen bereits früher ei-ne unaufgeforderte Eingabe machen, um allfällige durch die Gegenpartei veranlasste No-ven sicher in den Prozess einbringen zu können (vgl. Hunsperger/Wicki, Fallstricke des Replikrechts im Zivilprozess …, AJP 2013, 975 ff, 982).

– Das Risiko, mit Verzichtsfiktionen konfrontiert zu werden, führt zu einer an sich uner-wünschten Aufblähung, Verlängerung und Verteuerung der Prozesse.

Die Ausweitung des „Replikrechts“ gemäss Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts darf indessen nicht an folgenden Grundsätzen etwas ändern:

– Die anwendbare Verfahrensordnung kann unter Berufung auf das erweiterte „Replikrecht“ nicht ausgehebelt werden. Namentlich bleiben die einschlägigen Regeln betreffend Ein-bringung von Noven weiterhin anwendbar. Unter Berufung auf das „Replikrecht“ können nicht neue Tatsachen und Beweise gültig vorgetragen werden, die gemäss Verfahrens-ordnung unzulässig oder verspätet sind (das gilt für alle Verfahrensbeteiligten).

– Das Recht zur „Replik“ ist insofern keine Pflicht zur „Replik“, als die betreffende Partei nicht verpflichtet ist, unaufgefordert sofort eine inhaltliche Stellungnahme einzureichen (vgl. Hunsperger/Wicki, a.a.O., 978).

– Daher genügt es, wenn die replikwillige Partei beim Verfahrensleiter einen Antrag auf An-setzung einer Frist für eine unaufgeforderte Stellungnahme stellt. Zweckmässigerweise wird mit diesem Antrag eine vorsorgliche Bestreitung und eine Erklärung zum Ausschluss der fiktiven Verzichtswirkung verbunden.

Leider sind die Einzelheiten des erweiterten „Replikrechts“ vorerst noch wenig geklärt. Namentlich ist die wichtigste Frage der Frist, innert welcher die replikwillige Partei beim Gericht vorstellig zu werden hat, ungeklärt. Es wird empfohlen, im ordentlichen Verfahren eine Frist von 20 Tagen für eine Eingabe an das Gericht einzuhalten und in einem Summarverfahren eine Frist von 10 Tagen. Diese Frist beginne erst zu laufen, wenn die Partei nicht nur Kenntnis von der fraglichen Eingabe der anderen Verfahrenspartei habe, sondern auch davon, dass das Gericht von einem weiteren Schriftenwechsel an sich absehen will (vgl. Hunsperger/Wicki, a.a.O., 984).

So oder so bringt die jüngere Rechtsprechung zum „Replikrecht“ den Verfahrensbeteiligten effek-tiv weit weniger Rechte als vielmehr zusätzliche Pflichten und Risiken.

Dr. Benedikt A. Suter