
Gewichtung von Gutachten und Gemeindeautonomie - Besprechung des BGer 1C_635/2024, Urteil vom 14. August 2025
Das Bundesgericht (BGer, 1C_635/2024 vom 14. August 2025) hatte sich jüngst mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden zu befassen, in dem es um die Baubewilligung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses ging. Die betroffene Parzelle liegt in einem besonders sensiblen Bereich: Sie gehört zu einem Objekt, das im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) sowie im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) aufgeführt ist und grenzt zudem an einen Weg des Bundesinventars der historischen Wege der Schweiz (IVS).
Die kommunale Baukommission erteilte die Baubewilligung. Dagegen erhoben benachbarte Grundeigentümer Beschwerde, welche vom Verwaltungsgericht gutgeheissen wurde und zur Aufhebung der Baubewilligung führte. Die Bauherrin gelangte daraufhin ans Bundesgericht.
Sachverhaltsprüfung und Beweiswürdigung
Im Zentrum des bundesgerichtlichen Verfahrens stand die Frage, wie die kantonalen Gerichte mit unterschiedlichen fachlichen Einschätzungen umzugehen haben. Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass kantonale Instanzen gemäss Art. 110 BGG, Art. 33 Abs. 3 lit. b RPG sowie dem einschlägigen kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetz den Sachverhalt frei prüfen, dem Untersuchungsgrundsatz unterstehen und die erforderlichen Beweise von Amtes wegen zu erheben haben. Die Pflicht zur Abnahme von Beweismitteln leitet sich auch direkt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ab.
Im konkreten Fall stützte sich die Gemeinde auf eine Stellungnahme ihrer unabhängigen kommunalen Bauberaterin, während die Beschwerdeführenden ein privates Gutachten eines externen Fachbüros einreichten. Die Bauherrin monierte, dass dem Gutachten der Beschwerdegegner dieselbe Beweiskraft beigemessen worden sei wie demjenigen der offiziellen Bauberatung.
Sofern die Gemeinde nicht über das notwendige Fachwissen verfügt, kann sie sich dieses mittels Einholung eines Amtsberichts verschaffen. Das Bundesgericht hält zudem fest, dass es weder darauf ankäme, ob das kantonale Gericht die Stellungnahme der Bauberaterin dem Expertenbericht gleichgestellt habe, noch, welche objektive Beweiskraft diesen beiden Dokumenten beigemessen werde. Selbst wenn man der Stellungnahme der kommunalen Bauberaterin eine höhere Beweiskraft zugestehen wollte, könne ein privat in Auftrag gegebenes Gutachten dennoch geeignet sein, Zweifel an der Schlüssigkeit der behördlichen Einschätzung zu wecken.
Verletzung der Gemeindeautonomie?
Im Weiteren setzte sich das Bundesgericht mit der gerügten Verletzung der Gemeindeautonomie auseinander.
Zunächst erinnerte es an die einschlägigen Grundsätze im Baurecht: Bei der Anwendung kantonaler oder kommunaler Ästhetikvorschriften steht den kommunalen Baubehörden ein durch Art. 50 BV geschützter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Kantonale Gerichte haben entsprechende Entscheide mit Zurückhaltung zu überprüfen und dürfen sie nur dann aufheben, wenn die Gemeinde diesen Spielraum überschreitet – was auch bereits dann der Fall ist, wenn sie ihn nicht pflichtgemäss ausübt.
Eine Verletzung der Gemeindeautonomie sowie des Willkürverbots vermochte das Bundesgericht nicht darin zu erkennen, dass das Verwaltungsgericht einen Amtsbericht der kantonalen Denkmalpflege eingeholt hatte. Wie bereits ausgeführt, ist das kantonale Gericht verpflichtet, den Sachverhalt selbständig zu ermitteln und die Beweismittel frei zu würdigen. Bestehen Zweifel, darf es ergänzende Fachberichte einholen – dies gehört zur gesetzlich vorgesehenen Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen.
Auch der Umstand, dass das kantonale Gericht gestützt auf die Ästhetikklausel die Baubewilligung verweigerte, stellt für sich genommen keine Verletzung der Gemeindeautonomie dar. Zwar darf die Anwendung einer solchen Klausel nicht dazu führen, dass die kommunale Zonenordnung faktisch ausser Kraft gesetzt wird (vgl. BGE 145 I 52 E. 4.4). Jedoch ist es zulässig, aus ästhetischen Gründen eine Reduktion der Baumasse zu verlangen, sofern überwiegende öffentliche Interessen dies rechtfertigen – wie hier im Kontext des ISOS-Schutzes. Eine gestützt auf diese Interessen verweigerte Bewilligung ist somit rechtskonform und begründet keine Autonomieverletzung.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde entsprechend ab.
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