Altersdiskriminierung bei den Kündigungsfristen

Die Vorschrift des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB zur Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfristen ist nicht mehr anzuwenden. Der Europäische Gerichtshof erklärte sie im Urteil vom 19.01.2010 (C-555/07) für europarechtswidrig.

Die gesetzlichen Kündigungsfristen richten sich nach der Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers im Betrieb. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB bestimmt, dass Zeiten vor der Vollendung des 25. Lebensjahres nicht zu berücksichtigen sind. Gegen diese Regelung wandte sich die Klägerin im Ausgangsverfahren. Sie war seit Ihrem 18. Lebensjahr bei der Beklagten beschäftigt. Nach einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren wurde sie mit Kündigungsfrist von einem Monat gekündigt. Die Beklagte berechnete die Kündigungsfrist nach Maßgabe des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB, sodass sieben Jahre Betriebszugehörigkeit unberücksichtigt blieben. Bei einer Berücksichtigung der gesamten Betriebszugehörigkeit hätte die Kündigungsfrist vier Monate betragen. Das in der Berufungsinstanz zuständige Landesarbeitsgericht Düsseldorf legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage nach der Gemeinschaftswidrigkeit des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB zur Vorabentscheidung vor.

Der Europäische Gerichtshof führte in seinem oben genannten Urteil aus, dass § 622 Abs. 2 S. 2 BGB eine ungünstigere Behandlung für Arbeitnehmer vorsehe, die ihre Beschäftigung bei dem Arbeitgeber vor Vollendung des 25. Lebensjahres aufgenommen haben. Diese Ar-beitnehmer würden gegenüber älteren Arbeitnehmern benachteiligt, da sie auch bei gleicher Betriebszugehörigkeit von der Vergünstigung der stufenweisen Verlängerung der Kündi-gungsfristen ausgeschlossen werden. Nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2000/78/EG sei die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Das Gericht berücksichtigte, dass es jüngeren Arbeitnehmern regelmäßig leichter falle und schneller ginge, auf den Verlust ihres Arbeits-platzes zu reagieren und dass ihnen eine größere Mobilität zugemutet werden könne. Auch wertete es die Zielsetzung, durch kürzere Kündigungsfristen die personalwirtschaftliche Flexibilität zu erhöhen, als legitim. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB stelle jedoch keine zur Erreichung des legitimen Zieles angemessene und erforderliche Maßnahme da. Die Vorschrift verstoße demnach gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG.

Richtlinien richten sich an die Mitgliedsstaaten. Sie haben auf das Verhältnis zwischen Pri-vatpersonen keine unmittelbaren Auswirkungen. Zwar sind die Gerichte der Mitgliedsstaaten zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB ist aufgrund seines eindeutigen Wortlauts aber nicht im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG auslegungsfähig. Der Europäische Gerichtshof begründet die Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB letztlich damit, dass dem Verbot der Altersdiskriminierung die Stellung eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts zukomme und dieses Vorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht genieße.

Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs sind bei der Berechnung der verlängerten gesetzlichen Kündigungsfristen künftig - ohne Ausnahmen - die gesamten Betriebszugehörigkeitszeiten zu berücksichtigen. Bereits ausgesprochene Kündigungen werden wegen fehlerhafter Berechnung der Kündigungsfrist in ihrer Wirksamkeit nicht berührt. Die Kündigungsfrist kann sich aber verlängern.

Karen Fiege

 

Fachanwältin für Arbeitsrecht

Karlsruhe